Der Norden
...ist ganz anders. Das wissen wir alle. Licht im Überfluss, aber nur im Sommer. Platz im Überfluss, Wald, Pilze , Beeren, Museen, Bahnhofstoiletten, Schulen, Seen und Flüsse.....gehören allen. Und werden also von allen genutzt, geachtet, gepflegt, nicht verdreckt, nicht verschmiert. Das Vertrauen der Gesellschaft, dass jeder dies auch tut, ist selbstverständlich. Lang erprobt und gewollt. Die sehr wenigen Ausnahmen kann das Land verkraften.
Eine kleine Geschichte dazu, wie man dort ganz anders, grad auch mit angstbesetzten Konflikten umgehen kann:
Seit etwa zwei Jahren sitzen vor jedem, wirklich jedem Supermarkt in Göteborg ein bis zwei Menschen des Volkes der Sinti und Roma. Sehr wenige versuchen ein paar Holzlöffel zu verkaufen. Die meisten betteln um Geld.
Keiner weiß genau, wo sie wohnen. Es gibt ein paar wilde Lager in der Hafengegend. Viele wohnen auch bei Verwandten in deren Wohnungen. Aber die Stadt hat da keine Übersicht, und keinen Kontakt zu den Betroffenen. Es gibt große Verständigungsprobleme, praktisch niemand der Sinti und Roma kann Schwedisch. Englisch nur rudimentär.
Es gab, trotz dieser "Fremdübernahme" der Supermarkteingänge, weder Verweise, Räumungen, Verbotsschilder, Bildung von Bürgerwehren, Demos von besorgten Bürgern, Gesetzesverschärfungen, Übergriffe der einen oder anderen Seite, noch verbreitete Hetze gegen die Fremden.
Nichtsdestotrotz sah sich die Stadt genötigt, etwas zu tun. Weil sie, und hier wird es spannend, die Menschen, die sich offensichtlich in dieser Stadt zum Bleiben einrichten, mit hineinnehmen wollen in die Stadtgesellschaft. Und dies nicht als Reaktion auf Druck von Wahlberechtigten, sondern aus dem Selbstverständnis, möglichst alle mitzunehmen.
So wurde ein bekannter Mediator eingestellt, der zunächst mal sondiert, worum es den Leuten geht, wer für sie sprechen kann, Kommunikation aufbaut, Ängste und Misstrauen auf beiden Seiten herausfindet und zur Sprache bringt.
Wünsche und Forderungen formulieren, Ziele abstecken, lernen, miteinander zu reden. Ein pragmatischer Prozess ist eingeleitet.
Dass es eine Gesellschaft gibt, die sich um einen vertrauensvollen Umgang mit ihnen bemüht, ist für Sinti und Roma wahrscheinlich eine ganz neue Erfahrung. Als "Fahrendes Volk" kennen sie seit Jahrhunderten kaum anderes als Ablehnung oder romantisierende Vorstellungen ihrer Art zu leben.
Was mich so bewegt an dieser kleinen Stadtgeschichte, ist das Selbstverständnis vom miteinander.
Plötzlich kommen Menschen, die waren vorher nicht da. Die leben ganz anders, reden anders, sehen ganz anders aus.
Die Reaktion ist nicht Ablehnung, sondern erstmal Ratlosigkeit, die sich nicht in Misstrauen und Hetze, sondern in Abwarten ausdrückt.
Und dann der Wunsch, zu verstehen. Die Frage: wie kann es für alle gut werden und was können wir dafür tun? Letztlich: Was können alle gewinnen. Und nicht: Hilfe, die nehmen uns was weg, benutzen unsere schöne, saubere Stadt.
Wie sehne ich mich in unserem reichen, satten, geordneten Land nach ein bisschen mehr von dieser Gelassenheit, diesem Geist des pragmatischen Handelns.
Der Stadtrat Göteborgs besteht bestimmt nicht aus "Gutmenschen". Aber er hat es nicht nötig, populistisch nach harten Maßnamen zu schreien, weil die Menschen in Jahrzehnten den generellen Weg, für alle ein gerechtes Leben zu ermöglichen, verinnerlicht haben.
Dass auch in Schweden nicht das Paradies ist, dass es auch dort Fremdenfeindlichkeit und Nazis, Nationalismus und Egoismus gibt, weiß ich natürlich.
Aber spürbar ist, dass man einem Gegenüber erstmal vertraut, nicht misstraut. Das ist die Regel, nicht die Ausnahme.
Eine schöne Regel.
So habe ich nicht nur das Licht, das Wasser, die schon reifen Blaubeeren und die liebe Reisegesellschaft genossen, sondern auch diese und andere Geschichten gesammelt und mich an ihnen gefreut.
Und Midsommar gefeiert. Schwedisch und international. Tack!
PS: Bei unserer Midsommar-Feier lernte ich einen jungen Mann aus Uruguay kennen. Gelernter Koch, der seine Schwester in Göteborg besuchen und den uruguayischen Winter dort arbeitend verbringen wollte. Nach einer Woche hatte er eine sehr gut bezahlte Arbeitsstelle in seinem Beruf gefunden, Wohnung und jede Menge Freunde.
Mein vor fast drei Jahren nach Deutschland geflohener Nachbar, der ein hochqualifizierter Informatiker ist und im Iran ein Team von Informatikern geleitet hat, hat hier bisher in einem Obstladen arbeiten können( wobei er sich nie beklagt hat, dass er seinen Verdienst bis auf 50€ an das Arbeitsamt zurückgeben muss), wo er morgens um 6 Uhr das Obst auspackt und schön aufbaut.
Nach Jahren des Wartens konnte er nun endlich ein 4wöchiges Praktikum in seinem Beruf absolvieren in einer großen Firma. Dachte er. Er hat 4 Wochen nur an seinem Schreibtisch gesessen. Niemand war für ihn zuständig, niemand hat ihm etwas erklärt oder gezeigt. Die Firma wird sich damit schmücken, dass sie einem Geflüchteten einen Praktikumsplatz ermöglicht hat.
Er hat mehrfach gebeten, ihm eine Aufgabe zu geben. Vergebens. Ein gutes Zeugnis haben sie ihm allerdings ausgestellt. Fürs Nichts- Tun, wie er sagt.
Ich kenne inzwischen hunderte solcher Geschichten von Verschwendung der Energien junger Leute, die zu uns kommen und ihren Teil beitragen wollen. Aber nur auf bürokratische Hürden stoßen. Zur Langeweile verdammt sind, sich unterfordert fühlen, nicht zeigen dürfen, was in ihnen steckt. Teilweise Monate auf Sprachkurse warten....
Das geht nach hinten los, sehr verehrte Bürokraten und Zettelweltler. Was tun wir unseren Mitmenschen nur an mit diesem kafkaesken Getue!
"Vernünftiges Handeln in der menschlichen Sphäre ist nur möglich, wenn man die Gedanken, Motive und Befürchtungen des anderen zu verstehen versucht, so dass man sich in seine Lage zu versetzen weiß." So sah das Albert Einstein, so sehen das die Göteborger Stadtväter & - mütter. Menschlichkeit & Klugheit scheinen noch nicht ausgestorben, welch Glück.
AntwortenLöschenDanke für deinen Bericht ( der wäre was für Ghislana )!
Astrid
Monate auf Sprachkurse warten... und dann einen Sprachkurs nach dem anderen machen dürfen in der Endlosschleife, immer und immer wieder. Eine Praktikumsvemittlung kommt so gut wie nie zustande. So wird man auch ausgebremst. Ich kann den aufkommenden Frust sehr gut nachvollziehen. Schade, daß man vorhandenes Potential so derart in die Tonne kloppt.
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